Friday, January 11, 2008

Armut in Hong Kong

Ressort: WirtschaftURL: /wirtschaft/artikel/245/150870/Datum und Zeit: 11.01.2008 - 02:36
06.01.2008 9:19 Uhr

Armut in Hongkong
Herr Ho und seine Regenschirme
Hongkong gehört zu den teuersten Städten der Welt, doch der Wohlstand ist extrem ungleich verteilt - trotzdem kommt bei den Verlierern kein Neid auf.Von Janis Vougioukas

Der Laden von Ho Hung-hee liegt am Ende einer Sackgasse, wo die Peel Street plötzlich zu einer Treppe wird, so steil ist es hier. Die Peel Street ist ruhig. Hier fahren kaum Autos, nur ganz wenige Motorräder, obwohl die Peel Street mitten in den Mid-Levels liegt, dem teuersten und geschäftigsten Viertel Hongkongs, die beste Lage. In den letzten Jahren haben in der Nachbarschaft Galerien und vornehme Restaurants eröffnet, mit herausgeputzten Schaufenstern. Ho Hung-hee war schon in seinem Laden in der Peel Street gesessen, bevor Mao in Peking die Volksrepublik gründete.Foto: Janis Vougioukas

Wenn bei den Banken in der Nachbarschaft die Mittagspause beginnt, laufen die Büroangestellten hier vorbei. Die Männer zuerst. Die Frauen gehen langsamer, sonst würden sie mit ihren hochhackigen Schuhen auf der steilen Straße vornüberkippen. Ho plant ein Fest. Kommende Woche ist es genau 60 Jahre her, dass er seinen Laden, eine Reparaturwerkstatt für Regenschirme, eröffnete. Er will Tische aufstellen, die Nachbarn einladen, natürlich auch die Stammkunden. Es wird Tee und Snacks geben. "Vielleicht ist es die letzte Feier", sagt er. Doch sentimental ist er nicht. Ho war schon da, als früher die feinen englischen Kolonialherren oben auf dem Berg wohnten und sich in Sänften den Hang hinauftragen ließen.
Hongkong ist eine andere Stadt geworden, noch hektischer, noch mächtiger, noch reicher. Hongkong war Englands letzte Kolonie in Asien und einer der Tigerstaaten, die in den achtziger Jahren mit ihren Billigfabriken den Westen aufschreckten. Dann begann China, seine Wirtschaft zu öffnen. Quasi über Nacht verlegten ganze Industriezweige ihre Produktion auf das chinesische Festland. Hongkong wurde das Tor zu China, ein Knotenpunkt mitten im Zentrum der Globalisierung. Die großen Trends der Weltwirtschaft trafen die kleine Felseninsel immer zuerst. Doch Hongkong meisterte alle sozialen und wirtschaftlichen Revolutionen wie eine Verwandlungskünstlerin. Heute gilt die Stadt als einer der dynamischsten Orte der Welt, ein Zukunftsmodell für viele Metropolen. Doch oft wird übersehen, dass bei jedem neuen Modernisierungsschub immer mehr Menschen zurückblieben. Besonders den Alten und Unqualifizierten fällt die Anpassung schwer. Die Kluft wächst.
In Hongkong regnet es viel, vor allem in den Sommermonaten. Dann stürzt das Wasser manchmal aus dem Himmel, als sei in den Wolken ein Staudamm gebrochen. Und die Peel Street verwandelt sich in einen Gebirgsfluss. Vielleicht haben sich die Engländer deshalb in Hongkong gleich heimisch gefühlt. Im Sommer ist der Regen ein Dauergesprächsthema in der Stadt. Und so kam Ho Hung-hee auf seine Geschäftsidee, Regenschirme zu reparieren.
Ho sitzt immer noch in der Peel Street.
Das war, bevor Mao in Peking die Volksrepublik gründete. Und bevor Hongkong zur Drehscheibe für Welthandel und globale Finanzströme wurde. Damals gab es in Hongkong die reichen ausländischen Handelshäuser und einige wenige Chinesen, die irgendwie mitverdienten. Und Hunderttausende arbeiteten wie Ho als Ein-Mann-Unternehmen: die Garküchenbesitzer, Kulis, die Sojasaucenverkäufer und die Stempelschnitzer, die am Straßenrand hockten und ihre Ware vor sich ausbreiteten. Ganz Hongkong war ein großer Marktplatz. Seitdem ist viel passiert, aber Ho sagt: "Für mich hat sich nicht viel verändert." Ho weiß alles über Schirme, und er kriegt jeden Schirm wieder hin.

Dafür wurde er in ganz Hongkong berühmt: Ho ist der letzte Regenschirm-Reparateur der Stadt. Die meisten fliegenden Händler sind verschwunden. Doch er sitzt immer noch in der Peel Street, so wie schon vor 60 Jahren. Der Laden ist kaum einen Quadratmeter groß, eingewickelt in blaurote Packplane, die rechte Seite des Ladens musste aufgebockt werden, so schief ist die Straße. Ho sitzt auf einem kleinen Hocker und wartet auf Kunden. Eine Frau kommt, sie trägt ein graues Kostüm mit Nadelstreifen, um ihren Hals baumelt ein Dienstausweis mit dem Logo der HSBC-Bank. Sie hat einen Kompaktschirm mitgebracht, einen besonders kleinen faltbaren, den man immer in der Handtasche tragen kann, so wenig Platz brauchen die modernen Modelle heute. "Ein Freund hat mir den Schirm aus Europa mitgebracht", sagt sie. "Jetzt hat sich eine Speiche gelöst. Ich habe ihn schon einmal reparieren lassen, und jetzt ist er schon wieder kaputt." Ho ist auf seinem Hocker sitzen geblieben. Er öffnet den Schirm zwischen den Beinen und betrachtet die Streben und die Nähte aus der Nähe. Er braucht inzwischen etwas länger, um den Faden durch das Nadelöhr zu fingern, drei Mal muss er es versuchen, und vorher leckt er jedes Mal am Zwirn. Für eine Reparatur bekommt er 25 Hongkong-Dollar, umgerechnet nicht einmal 2,20 Euro. Die Frau muss aber nichts bezahlen. "Sie hatte noch Garantie", sagt Ho. Noch drei andere Kundinnen kommen heute, kleinere Reparaturen, eine kaputte Öse, eine Naht ist aufgeplatzt. Eine Schülerin hatte eine Spezialanfertigung bestellt. Sie hatte ihm vor ein paar Tagen ein Foto gegeben, auf dem die englische Königin einen durchsichtigen Kunststoffschirm mit einer roten Schleife in der Hand trägt. "Genauso einen Schirm will ich haben", hatte sie gesagt. Gestern Abend hat Ho sich an die Nähmaschine gesetzt. Er hat extra einen roten Faden besorgt, der genau zu der Schleife passt. Wer die Nähte anschaut, sieht die Handarbeit und die Liebe. Solche Sonderanfertigungen will inzwischen kaum noch ein Kunde haben.
1,25 Millionen Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze
Die Geschichte des Regenschirms ist nicht vollständig erforscht. Chinesische Historiker glauben zu wissen, dass die Kaiser bereits vor etwa 1700 Jahren Schirme aus gewachstem Papier benutzten. Ho ist darauf sehr stolz. Er hat die Geschichte des Regenschirms mit Tusche und eckigen Schriftzeichen auf eine rote Kalligrafierolle geschrieben, und wenn neue Kunden kommen, hält Ho seinen Vortrag über die weltweite Erfolgsgeschichte des chinesischen Regenschirms und entrollt feierlich seine Kalligrafie. Erst viel später, vor nicht einmal 300 Jahren, brachte der Engländer Jonas Hanway den Schirm von seinen Weltreisen mit nach Europa. Regenschirme waren damals exklusiver Luxus. Hongkong ist reich und zeigt das gerne, nirgendwo sonst ist die Rolls-Royce-Dichte höher. Hongkong: Das ist der Juwelier Lam Sai-wing, der in seinem Laden ein Klo aus purem Gold bauen ließ. Die Stadt, wo Menschen sechsstellige Beträge für Nummernschilder mit Glückszahlen ausgeben. Hier wohnt der reichste Mann Asiens. Er heißt Li Ka-shing, ein Flüchtlingskind, das mit 14 die Schule abbrechen musste, um in einer Plastikfabrik zu arbeiten, 16 Stunden, jeden Tag. Heute wird sein Vermögen auf 23 Milliarden US-Dollar geschätzt. Li Ka-shings Leben - in Hongkong klingen so die Kindermärchen. Im Glanzlicht der Spiegelfassaden fällt die andere Seite kaum auf. Die Rentner, die den Müll sammeln. Die aufgestapelt in Käfigen wohnen, weil die Mieten inzwischen viel zu hoch sind. Die Bauarbeiter auf den Bambusgerüsten. Die Fabrikarbeiter, die ihr Leben lang am Fließband standen, bis ihre Fabrik nach China verlegt wurde. Mindestens 1,25 Millionen Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze, fast jeder fünfte Einwohner.
Seit der Rückgabe Hongkongs an China vor zehn Jahren hat die Zahl sich verdoppelt, obwohl die Wirtschaft heute besser dasteht als jemals zuvor. 150.000 Familien leben von einem Monatseinkommen unter 3000 Hongkong-Dollar - obwohl Hongkong zu den teuersten Städten der Welt gehört. Der Gini-Koeffizient, der die Wohlstandsverteilung in einer Gesellschaft beschreibt, liegt inzwischen bei 0.53, weltweit der höchste Wert einer entwickelten Volkswirtschaft. In kalten Zahlen ausgedrückt ist die soziale Kluft in Hongkong inzwischen sogar noch größer als in China.

Das Zeitalter der Massenproduktion hat den Regenschirm entwertet. Wenn heute Wolken am Himmel auftauchen, stehen die Straßenhändler an den U-Bahn-Stationen und Hochhauseingängen und verkaufen Schirme für 25 Dollar das Stück. Genauso viel wie für eine Reparatur. Manche Leute werfen den Schirm einfach weg, wenn der Regen aufgehört hat. Schirme sind so billig, dass sie fast zum Einwegprodukt geworden sind - wie eine Plastiktüte. Der Regenschirmmarkt hat heute nur noch wenig mit der alten Zeit zu tun. Doch Ho hatte verpasst, sein Geschäftsmodell zu modernisieren. Als er am 18. August 1936 auf die Welt kam, arbeitete sein Vater in einer Lebensmittelfabrik. Das Geld war knapp, und Ho konnte gerade zwei Jahre die Schule besuchen. Als er zehn Jahre alt war, verschaffte ihm ein Freund der Eltern seinen ersten Job als Kellner im Offiziersclub der Polizei. Irgendwann fand er eine Lehrlingsstelle als Buchhalter in einer Regenschirmfabrik. Der Laden hatte drei Stockwerke: die Reparaturwerkstatt mit Geschäft im Erdgeschoss und die oberen Etagen, in denen die Lagerarbeiter, Näherinnen und Büroangestellten arbeiteten.Es war eng und unordentlich. Ho rannte den ganzen Tag mit Stift und Klemmbrett durch das Haus, um die Zahlen für seine Tabellen zusammenzusuchen. Und weil er mit allen Kollegen redete und überall gleichzeitig war, lernte er ganz nebenbei, wie Regenschirme gemacht werden. Als er sein Abschlusszeugnis bekam, mietete er eine Kammer, ein Bett und einen Hocker, nachts saß er da und nähte Regenschirme. Und am Tag stellte er sich in die Peel Street, um seine Ware zu verkaufen.

In Hos Augen leuchtet ein helles Licht, wenn er über die alten Zeiten spricht. Das Geschäft mit den Schirmen ist schwer geworden, doch in guten Monaten bringt der Laden noch immer 6000 Hongkong-Dollar. Das ist ein halber Durchschnittslohn - aber es reicht und ist viel mehr als seine 700 Hongkong-Dollar Pension im Monat. Ho beklagt sich nicht. Er kann sich selbst ernähren.Wahrscheinlich würde er nicht einmal sagen, dass er zu den Verlierern Hongkongs gehört. Ho ist stolz, er hängt sehr an seinem kleinen Betrieb, auch wenn die Entscheidung für die Regenschirmbranche ihm keinen großen Wohlstand eingebracht hat. Es ist ein Phänomen in Hongkong: Die Unterschicht wird ärmer und wächst immer schneller, doch niemand fühlt sich ungerecht behandelt. Eine Neiddebatte würde es hier nie geben. Vielleicht weil es ja immer wieder Blumenverkäufer und Büroboten gab, die tatsächlich irgendwie Millionäre wurden. Diese Hoffnung hält Hongkong zusammen.

Es gibt seit einigen Jahren eine Regierungskommission, die sich mit dem Thema Armutsbekämpfung beschäftigt. Doch die ist bisher vor allem durch teure Studienreisen nach Südeuropa aufgefallen. Die Kommentatoren der großen Tageszeitungen kritisieren das inzwischen. "Eine Armutsrate von 20 Prozent schadet der Entwicklung der ganzen Stadt", schreibt der Standard. Irgendwann wird Hongkong die Armut bekämpfen, schon weil es volkswirtschaftlich sinnvoll ist. Ho wird davon wohl nicht mehr profitieren. Sonntags bleibt der Laden geschlossen. Dann geht er mit seiner Frau Tee trinken, dafür bleibt immer genug Geld übrig. Sie haben neun Söhne auf die Welt gebracht. Einer der Jungen schreibt gerade in Harvard seine Doktorarbeit. Das Regenschirmgeschäft will keines der Kinder übernehmen. In acht Jahren will Ho den Laden zumachen. Er wäre dann 80. "Dann reicht es wirklich", sagt Ho.(SZ vom 05.01.2008)

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